Interview Solingen/Würselen
Die fünf Kinder, die in Solingen mutmaßlich von ihrer Mutter umgebracht wurden, sind inzwischen beigesetzt worden. Ulla Wessels vom Kinderschutzbund wundert sich, dass niemand nach der Verantwortung der Väter fragt.
Im Gespräch erzählt sie auch, was man tun kann, wenn es Anzeichen von Überforderung gibt. Von Kristina Toussaint
Die in Solingen getöteten Kinder sind beigesetzt. Das teilte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Donnerstag mit. Gegen die 27-jährige Mutter, die sich nach der Tat vor einen Zug geworfen haben soll und dabei schwere Verletzungen erlitt, war Haftbefehl wegen fünffachen Mordes erlassen worden. Die Ermittler glauben, dass die alleinerziehende Mutter die Tat ein Jahr nach der Trennung von ihrem Mann in einem Zustand emotionaler Überforderung begangen hat.
Ulla Wessels ist Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes im Nordkreis und weiß, welche Aufgaben Familien bewältigen müssen. Kristina Toussaint hat mit ihr gesprochen.
Frau Wessels, die Solinger Familie war dem Jugendamt bekannt, es soll aber keine Warnzeichen gegeben haben. Können Sie das glauben?
Ulla Wessels: Vorab: Mir geht es überhaupt nicht um irgendwelche Schuldzuweisungen, sondern darum, noch mal einen anderen Blick auf den Fall zu werfen. Wenn das Jugendamt sagt, da gab es keine Anzeichen für Gewalt, dann ist dort etwas nach innen losgegangen. Und wenn eine Mutter mit 27 sechs Kinder hat, im Alter von elf bis eins, dann ist diese Familie per se gefährdet. Ob es da Anzeichen von Gewalt gab oder nicht, ist völlig unerheblich. Eine funktionierende Familie mit drei kleinen Kindern hat schon große Aufgaben zu bewältigen. Eine 27-jährige Mutter mit alleiniger Verantwortung für sechs Kinder ist eine Gefährdung für alle.
Wieso wurde dann nicht erst recht verstärkt an die Familie herangetreten?
Wessels: Das ist für mich unverständlich. Aber wie gesagt will ich niemandem Schuld zuweisen. Vielmehr stelle ich mir die Frage: Es gibt drei Väter zu den Kindern – Wo sind die? Und wie wird eigentlich Vaterschaft in unserer Gesellschaft gelebt und wahrgenommen? In den Medien wird sie alleine aus biologischer Sicht thematisiert – klar, zu den Kindern gibt es Väter. Aber wo ist die soziale Vaterschaft?
Erleben Sie Väter in getrennten Familien häufig als abwesend?
Wessels: Ich bin nicht der Auffassung, dass Väter grundsätzlich abwesend sind. Im Gegenteil: Ich erlebe, dass sie sich sehr viel Mühe geben, den Kontakt zu ihren leiblichen Kindern zu erhalten nach Trennungen, sich bemühen, Erziehungsverantwortung wahrzunehmen. Und dass es da große Hürden zu überwinden gibt zwischen den getrennten Elternteilen. Aber medial tauchen die Väter nicht auf. Und dadurch werden immer wieder alte Muster bedient: ‚Die Frauen sind für die Kindererziehung zuständig, die Frauen geraten in Überforderungen.
’Brauchen Familien mehr Unterstützung als früher?
Wessels: Grundsätzlich kann man schon sagen, dass Erziehungsschwierigkeiten zugenommen haben. Als Träger von einer Kindertageseinrichtung, einer offenen Ganztagsschule, einem Stadtteilbüro erleben wir schon, dass Erziehungskompetenzen nachlassen – aber auch, dass der Druck größer wird, vor allem der wirtschaftliche Druck. Corona hat es sicherlich nicht einfacher gemacht für die Familien. Es gibt auch Familien, die nehmen keine Hilfe an, zum Beispiel, weil sie nicht offen machen möchten, dass sie hilfsbedürftig sind. Wir als freie Träger haben da vielleicht noch einen einfacheren Zugang als das Jugendamt.
Welche Möglichkeiten haben Sie da als Kinderschutzbund?
Wessels: Wir versuchen, sehr niedrigschwellig zu arbeiten. Wir haben zum Beispiel in Würselen ein Stadttteilprojekt, wo wir Angebote machen für Mütter mit Babys im ersten Lebensjahr, kooperieren mit Schulen und machen pädagogische Mittagstischbetreuung. Da kommen wir an die Kinder und Familien ganz gut ran und bekommen Schwierigkeiten mit. Wir haben ein Familienpaten-Projekt, bei dem ehrenamtliche Mütter und Väter Familien unterstützen, die bedürftig sind. Wichtig ist, dass wir auch als Nachbarn oder Bekannte mehr hingucken und auch Angebote machen.
Wenn man das Gefühl hat, dass in einer Familie etwas im Argen liegt, wann und wie sollte man aktiv werden?
Wessels: Das ist immer schwierig, weil es natürlich eine Hemmschwelle gibt, solche Dinge zu benennen. Es gibt schon Leute, die bei uns anrufen und sagen „Ich hab da was beobachtet“, und dann kann man sich gemeinsam zusammensetzen und überlegen. Wenn es nicht um konkrete Anhaltspunkte für Gewalt geht, sondern zum Beispiel um Hinweise auf eine Überforderung, gilt es, das Gespräch zu suchen. Wenn wir so etwas in unseren Einrichtungen erleben, dann hören wir nach, was eigentlich los ist und ob es Hilfsbedarf gibt. Lieber einmal zu viel gefragt als einmal zu wenig!
Und was kann man als Elternteil tun, wenn man das Gefühl hat, einem wächst alles über den Kopf?
Wessels: Es gibt viele Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen. Ganz niedrigschwellig sind Familienzentren – also Kindertagestätten, die in ihren Räumlichkeiten Treffpunkte oder auch Beratung anbieten. Auch Eltern- und Erziehungsberatungsstellen sowie der Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V. (VAMV) sind kostenfreie Anlaufstellen in Krisen- und Überforderungssituationen. Ganz anonym sind die Telefonberatungen der Telefonseelsorge. Auch das Jugendamt ist eine probate Anlaufstelle, die über viele Möglichkeiten verfügt, Familienhilfe zu finanzieren. Und nur in schweren Vernachlässigungs- und Gewalt-Fällen Kinder in Obhut nimmt. Diese Angst versuchen wir den Eltern zu nehmen. Das Schwierige ist, sich zu öffnen. Die Sorge, als Elternteil zu versagen, spielt immer eine Rolle. Dabei ist das Leben mit Kindern immer eine große Herausforderung!